Johannes Weyrauch (1897–1977)

[Der Text ist dem Booklet zur CD »Johannes Weyrauch – Geistliche Vokalmusik« entnommen.]

Am 20. Februar 1897 wurde Johannes Weyrauch in Leipzig geboren, hier lebte er bis zu seinem Tode am 1. Mai 1977.

Er gehört zu den Komponisten des 20. Jahrhunderts, die sich unter Anknüpfung an das Schaffen älterer Meister, an musikalische Quellen (Volkslied, Choral, Instrumentalformen), von deren Ungebrochenheit in linearer und rhythmischer Beziehung, eine Erneuerung und Befruchtung der musikalischen Entwicklung erhofften. Äußerlichkeiten vergangener Musikepochen interessierten ihn dabei nicht, sondern stets die geistige Substanz jener Werke. Die stilistische Wandlung seines Werkes ist nicht von Modeströmungen hervorgerufen, sondern von dem Bestreben, immer eindeutiger seine künstlerische Absicht zu verwirklichen: Klarheit, Vermeidung alles Überflüssigen, Anwendung sparsamer und einfacher musikalischer Mittel. Für ihn war eine »spürbare Ausstrahlung der Herzenskräfte« erste Voraussetzung für sein Schaffen. Bereits in frühen sakralen Werken ist jenes meditative Element zu spüren, das sich im Spätwerk immer stärker ausprägen soll.

In Weyrauchs »Musikalischem Testament« (1966) findet sich der Schlüssel für sein Schaffen: »Die Musik ist eine Sprache. Sie redet an, spricht zu, sie kann verkünden, verdeutlichen und vermag zu offenbaren. Sie ist nicht nur Klang, erzeugt nicht nur Gefühl oder Stimmung: In ihrer höchsten Vollendung und Form kann sie das "Wort" – selbst das biblische Wort – überbieten und letzte Wahrheiten und Wirklichkeiten transparent werden lassen.«

In Weyrauch lebte etwas von dem Wesentlichen der Gesinnung jener alten Meister, die ihr Werk hineinstellten in das Gebot des »Soli Deo Gloria«.

Nach seinem Studium am Leipziger Konservatorium bei Sigfrid Karg-Elert und Stephan Krehl kommt Weyrauch sehr bald mit der Jugendbewegung in Berührung, deren musikalische Renaissancebestrebungen seinem Bemühen um eine »neue Wesentlichkeit« entgegenkamen. Der Umgang mit dem deutschen Volks- und Chorlied, die Neuentdeckung von Heinrich Schütz, die Renaissance der Blockflötenliteratur sowie die Orgelbewegung beeinflußten seine künstlerische Entwicklung. Allmählich tritt das kirchenmusikalische Schaffen in den Vordergrund. Während seine ersten Werke ganz im Banne der spätromantischen Expressivität stehen, wendet er sich später einer klaren Diktion auf tonaler Grundlage zu, verzichtet auf bizarre Melodik, harmonische Reizmittel und faszinierende Rhythmik. Die »Osterkantate« (1926) bildet den Anfang einer Entwicklung, die mit der »Missa pauperum« (1954), der »Johannespassion« (1957) und den vier Evangelienmotetten, die auf vorliegender CD erklingen, ihren Höhepunkt erreicht. In seinen »Gedanken über zeitgenössische Kirchenmusik« (1963) prägt Weyrauch den Begriff der »geistlichen Armut« und führt aus: »Wir müssen lernen, uns zu bescheiden, müssen auf alle musikalische Selbstherrlichkeit verzichten«.

1935 beginnt die Reihe bekannter Orgelwerke, darunter die »Sieben Partiten zum Kirchenjahr « (1938–1940). Die »Orgelsonate in e« (1955) schließt die Reihe der größeren Orgelwerke ab.

Weyrauch ist inzwischen ins kirchenmusikalische Amt übergegangen (1936) – das Vokalschaffen fordert sein Recht. Neben zahlreichen kleineren Gebrauchsmusiken entstehen die »Johannespassion«, die »Missa pauperum«, die »Messe in C«, elf Motetten, acht Kantaten und das Alterswerk »Spruchgesang nach Worten von Guardini«.


[Werkeinführungen – Der Text ist weiterhin dem CD-Booklet entnommen.]

Auf vorliegender CD erklingen geistliche Vokalwerke, in denen Weyrauchs »Pauperitätsstil« kulminiert, beginnend mit dem »Magnificat« (Mariæ Lobgesang), einer Musik, die aus der Meditation erwächst und zur Anbetung hinführt.

»Herr Christ, der einig Gotts Sohn« (1950), bekannt als »Nikodemus-Motette« beginnt als einzige der Motetten mit einem Choral nach einer Originalmelodie von Elisabeth Kreuziger (1592). Die einzelnen Verse wirken wie ausgefeilte Holzschnitte. Die musikalische Wortbehandlung verrät die Ahnherrschaft von Heinrich Schütz. Die Christusworte werden von einem gemischten Chor vorgetragen, sie sind Träger der Motette, alles übrige ist mehr oder weniger Beiwerk. Bis Takt 140 bleibt die Melodie syllabisch, um plötzlich in ein gewaltiges Melisma einzumünden, die Tonart e-Moll wird aufgegeben, der Schluß erstrahlt in E-mixolydisch und mündet in das von Weyrauch zur Originalmelodie hinzugefügte »Amen« ein. Nach einer langen Pause, die sowohl dem Nachhallen des Verklungenen als auch zur Vorbereitung auf das Kommende dienen soll, schließt sich der Eingangschoral – nun auch E-mixolydisch – als Ausklang an.

In der Motette »Das große Abendmahl« (Luk. 14,15–24; 1956) verwendet Weyrauch erstmalig in seinem Schaffen eine Antiphon, die als Einleitung, Mittelstück und Schluß erklingt. An die Schlußantiphon schließt sich ein filigran gearbeitetes, melismatisches »Amen« an. Interessant und aufschlußreich die Differenzierung der Chorstimmen: das Evangelium singt ein zweistimmiger Frauenchor, während ein einstimmiger Männerchor die Partien der angesprochenen Gäste übernimmt. Der »Hausherr« (Gottvater) wird von einem vierstimmigen, der »Knecht« (Engel) von einem dreistimmigen und Christus von einem fünfstimmigen Chor vorgetragen.

Die dritte Motette »Der Gang nach Emmaus« (Luk. 24,13–35; 1961), deren österliches Geschehen als logische Fortführung der Johannespassion zu denken ist, verdrängt die Antiphon zugunsten eines machtvollen, archaischen, sechsstimmigen Hymnus’ (Notker I. von St. Gallen, 840–912). Sein permanenter Taktwechsel, typisches Merkmal Weyrauchscher Musik, ist auf die vom Wort, von der Sprache herkommende Akzentuierung zurückzuführen. Selten pflegt Weyrauch in seine kirchenmusikalischen Werke Soli einzufügen, nur da, wo es zur Dramatisierung des Geschehens nötig scheint: Die beiden Jünger Kleophas und der Andere führen eine eigensüchtige Auseinandersetzung mit Christus, teils melismatisch, teils syllabisch. Im Moment der eigentlichen »Sichtbarwerdung« des anfänglich »Unsichtbaren Christus« (Weyrauch) wird der musikalische Höhepunkt dieser Motette, in einer Art Vision, erreicht. Durch bewußte Reminiszenzen kommt eine »Treppenmelodik« zustande. Verbreiterungen und Imitationen prägen den Satz polyphon. Im Teil IV (»Der Herr ist auferstanden«) baut sich die Melodik auf dem Orgelpunkt A auf, darüber stehen Dreiklangparallelen auf F-Dur und B-Dur, das ins E-Dur des Hymnus’ einmündet.

Wiederum tritt die Antiphon als Gerüst der Gesamtkonzeption der letzten Evangelienmotette »Die Verklärung Christi« (Matth. 17,1–9; 1964) auf. Weyrauch will in diesem Werk den Zentralchor als »Gott« verstanden wissen. Wo der Evangelienbericht zum greifbaren Ereignis wird, steigert sich die Musik in hymnische Mehrstimmigkeit, wo Transzendenz des Geschehens eintritt, fühlt sich der sensible Hörer wie von einer Lichtquelle überflutet. Ein Stil ist hier entstanden, gewissermaßen die Verdichtung des Wortes in Tönen.

In Weyrauchs letzten Lebensjahren, in der Auseinandersetzung mit manchem Leidvollen, das ihm bewußt wurde, entstanden die »Zusprüche«, Meditationen über Lebensfragen, künstlerische Dinge und über das Wirken des Reiches Gottes. Auf gleichsam musikalische Weise werden in dem folgenden »Zuspruch« die großen Themen seines Denkens, Schaffens und Strebens zusammengeschaut: »Das Reich Gottes gleicht einem Meer, dessen Wellen als Liebe in die Herzen der Menschen strömen und ihr irdisches Dasein tragbar, tröstlich und sinnvoll machen in Auswirkung des Christuswortes "Der Friede sei mit euch".« Weyrauchs unermüdliches Streben nach »positivem Glauben«, nach dem »Licht der Welt« und einer daraus resultierenden, neuen gültigen »Musica sacra« kulminiert in den Alterswerken »Eine Kantate vom Reich Gottes« (nach Texten des NT u. Weyrauch; 1969) und »Eine Kantate von der Liebe« (nach 1. Kor. 13 und Worten des Hlg. Franziskus; 1971). Nach des Komponisten Aussage »hanget das neue christliche Gesetz und eine neue christliche Prophetie« in beiden Kantaten, die gleichzeitig mit den o. g. »Zusprüchen« entstanden und korrespondieren.

Mit fünfundsiebzig Jahren schreibt Weyrauch sein letztes geistliches Vokalwerk, den Spruchgesang nach Worten von Romano Guardini »Endzeit« (1972). Nur ein Gereifter, der darum weiß, daß die christliche Kultur an einem Wendepunkt angelangt ist, konnte diesen Text vertonen in einer Schlichtheit des Satzes, die nicht zu unterbieten ist.

Dr. Wolfgang Orf